Prinzip: Peerproduktion
Wie man nützliche Dinge herstellt – freiwillig und ohne Boss
von Christian Siefkes erschienen in der Zeitschrift OYA 03/2010
Wer den Begriff »Peer-Produktion« in eine Diskussionsrunde einbringt, erntet meist fragende Gesichter. Was soll das sein? Christian Siefkes klärt auf und zeigt das Potenzial dieses Wirtschaftsmodells.
Peer-Produktion ist die freiwillige Kooperation zwischen Gleichberechtigten (englisch: peers), die zu einem gemeinsamen Ziel beitragen. Bezahlt werden sie dafür nicht. Im Internet funktioniert das schon seit längerem mit erstaunlichen Erfolgen – Beispiele sind freie Software-Projekte wie Linux und Firefox, die freie Enzyklopädie Wikipedia und andere Projekte, die lizenzfreie Texte, Musik oder Filme produzieren. Auch das OpenStreetMap-Projekt, das frei nutzbare und erweiterbare Karten der ganzen Welt erstellt, entsteht durch viele freiwillige Beiträge einzelner »Peers«.
Peer-Produktion basiert auf dem Bedürfnisprinzip: Am Anfang steht ein Bedürfnis, das man sich erfüllen, oder eine Idee, die man gerne realisieren möchte. Dann sucht man sich andere Leute, die mehr oder weniger dasselbe Problem oder Ziel verfolgen, und widmet sich gemeinsam der Verwirklichung. Anders als bei der Produktion für den Markt geht es bei Peer-Produktion nicht darum, ein Produkt möglichst gut zu verkaufen, sondern um die konkreten Bedürfnisse und Interessen der Beteiligten. Und da alle freiwillig mitmachen, kann niemand den anderen Befehle erteilen – auch wer die Entwicklung eines Projekts koordiniert, hat keine Macht über die anderen, auf deren freiwillige Beiträge er oder sie schließlich angewiesen ist. Deshalb gibt es in Peer-Projekten auch selten Mehrheitsentscheidungen, da diese die unterlegene Minderheit verprellen könnten. Für Entscheidungen wird ein Konsens angestrebt, den vielleicht nicht jede und jeder einzelne der Beteiligten gleich stark mitträgt, aber doch insgesamt akzeptieren kann.
Was im Internet begann, breitet sich inzwischen auch in die materielle Welt aus. Nicht nur Software, sondern auch nützliche Dinge, die man anfassen kann, lassen sich auf diese Weise herstellen. Dazu muss man zunächst wissen, wie man Dinge produziert, aber auch, wie man sie benutzt, wartet, repariert und schließlich fachgerecht recycelt. Darum kümmern sich Peer-Projekte, die gemeinsam freie Designs – Beschreibungen materieller Objekte inklusive der nötigen Konstruktionspläne und Materiallisten – entwerfen und veröffentlichen. Das US-Magazin »Make« veröffentlicht jährlich einen großen Report zum Thema, dessen aktuelle Ausgabe schon weit über hundert Projekte enthält – mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Dazu gehören Plattformen für Computerhardware wie Arduino, Bug Labs und OpenCores, Telekommunikations-Hardware wie Asterisk und Openmoko, aber auch medizinische Projekte wie das Open Prosthetics Project, das frei nutzbare Prothesen entwickelt.
Gemeinsam organisieren, was nötig ist
Designs und Baupläne helfen aber nicht, wenn es am Zugang zu den benötigten Produktionsmitteln mangelt. Doch inzwischen nehmen sich Peer-Projekte auch der materiellen Ressourcen an – Menschen schaffen gemeinsame Infrastruktur, um zu kommunizieren, sich mit Energie oder Wasser zu versorgen oder die Dinge herzustellen, die sie zum Leben brauchen.
Ein Beispiel für selbstorganisierte Kommunikations-Infrastrukturen ist das dezentrale Netzwerk für Internet und Telefonie der Einwohnerinnen und Einwohner der südafrikanischen Gemeinde Scarborough. In der Scarborough Wireless User Group stammt die nötige Hard- und Software aus zwei Projekten für freies Design, dem Village Telco Project und dem Free Telephony Project. Die benötigten WLAN-Router werden jeweils von einzelnen Einwohnern gekauft und dem Netz zur Verfügung gestellt – es gibt niemanden, dem das ganze Netz oder ein Großteil davon gehören würde, niemand könnte es kontrollieren oder abschalten. Die extern anfallenden Kosten – etwa für die DSL-Zugänge zum eigentlichen Internet – werden durch freiwillige Abogebühren gedeckt. Wer sich nicht finanziell beteiligen will oder kann, darf das Netzwerk trotzdem nutzen, allerdings werden die Verbindungen der (finanziell) Beitragenden im Zweifelsfall vorrangig bedient. Auf diese Weise kann sich das Netzwerk tragen, ohne auf einzelne Geldgeberinnen und Geldgeber angewiesen zu sein, gleichzeitig wird niemand ausgeschlossen.
Besonders interessant sind gemeinschaftlich organisierte Einrichtungen, in denen man materielle Güter herstellen kann. In den letzten Jahren sind in Dutzenden von Städten in aller Welt sogenannte Fab Labs entstanden – seit kurzem gibt es auch eines in Deutschland, nämlich in Aachen, ein weiteres Fab Lab in Hamburg ist in Gründung. Fab Labs sind offene Werkstätten, die über ein reichhaltiges Sortiment von Produktionsmaschinen verfügen, die die Menschen in ihrer Nachbarschaft nutzen können.
Sie verfügen beispielsweise über Maschinen, die computergesteuert Materialblöcke zurechtschneiden oder fräsen können, sogenannte CNC-Maschinen, sowie über 3D-Drucker, sogenannte Fabber, die in wenigen Stunden selbst komplexe dreidimensionale Gegenstände aus vielen Schichten aufbauen. Der Anspruch der Fab Labs ist, mit Hilfe der passenden Werkzeuge »beinahe alles« produzieren zu können. So weit ist es freilich noch nicht, doch allerhand nützliche Dinge wie Mobiliar und andere Holzgegenstände, Kleidung, Platinen und Computerzubehör lassen sich bereits herstellen.
Maschinen, die allen zur Verfügung stehen
Fab Labs verstehen sich als selbstorganisierte Räume, die von einer Community von Freiwilligen betrieben werden. Tendenziell sollte das auch für die Finanzierung gelten, doch sind die Fab Labs dafür heute noch zu teuer, weswegen sie meist von einer Universität oder anderen größeren Organisationen gesponsert werden. Die Ursache für die hohen Kosten liegt darin, dass die heutige erste Generation von Fab Labs noch auf proprietäre Maschinen setzt – das heißt die Baupläne dieser Maschinen sind nicht frei verfügbar. Dementsprechend müssen sie auf dem Markt eingekauft werden und sind kostspielige Anschaffungen.
Es gibt aber schon allerlei Projekte, die gemeinsam CNC-Maschinen, 3D-Drucker und andere Produktionsmittel entwerfen und ihre Ergebnisse als freies Design veröffentlichen. Solche freien Produktionsmittel – kleine CNC-Maschinen wie Contraptor und Cubespawn, kleine Fabber wie RepRap und Fab@Home – sind noch nicht konkurrenzfähig mit den Produkten der kapitalistischen Massenproduktion, aber sie sind auch nicht mehr weit davon entfernt. Das gilt vor allem für CNC-Maschinen und andere an traditionellen Produktionstechniken orientierte Ansätze. Fabber sollte man allerdings nicht überbewerten, noch sind sie keine ernstzunehmende Alternative für industrielle Produktion. Zukunftsträchtig ist aber ihr Prinzip: Sobald Maschinen selbst das Ergebnis von Peer-Produktion sind und im Rahmen selbstorganisierter Fab Labs und anderer Makerspaces (»Gemeinschaftswerkstätten«) nicht nur genutzt, sondern auch selbst hergestellt und vervielfältigt werden können, wird es spannend. Denn das ermöglicht, zumindest teilweise, die Abkoppelung vom Markt: Dinge, die man gemeinsam selber herstellen kann, muss man nicht mehr mit Geld kaufen, was die Abhängigkeit von Lohnarbeit oder staatlichen Almosen reduziert und neue Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben eröffnet.
Vom Nischenphänomen zum neuen Trend
Lange Zeit wurde die Peer-Produktion als Nischenphänomen gesehen, das nur in bestimmten Bereichen existieren könne. Doch sie springt auf immer neue Gebiete über. Tatsächlich können die Grundprinzipien der Peer-Produktion überall funktionieren: Wissen und Ressourcen werden als Gemeingüter behandelt, die man gemeinsam nutzt und gemeinsam pflegt und entwickelt; Menschen beteiligen sich freiwillig aus Interesse am Tun oder an dem, was da entsteht; Projekte entwickeln gemeinsam die Strukturen, die für sie am besten funktionieren, und sind dabei offen für alle, die mitmachen wollen und können. Peer-Produktion ist daher keine Nischenlösung, sondern eine gesamtgesellschaftliche Alternative. Und die wird dringend gebraucht, da die kapitalistische Produktionsweise stagniert und ihre Integrationsfähigkeit weitgehend verloren hat; sie bietet zwar Reichtum für wenige, aber kein gutes Leben für alle. Dagegen zeigt die Peer-Produktion, dass die finanziellen »Anreize« des Markts unnötig sind, dass die freiwillige Zusammenarbeit von Menschen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen, zu ähnlich guten und oft sogar besseren Ergebnissen führt als die geldgetriebene Produktion. Die gelebte Praxis der Peer-Produktion zeigt, dass der oft aufgestellte Gegensatz von Markt und Staat ein falscher ist. Es geht, wie uns die Peer-Produktion vorführt, auch ganz anders, ohne Markt und ohne Staat.